Im Herzen der Natur
Die sechste Klasse einer Real-Schule in der Landeshauptstadt stand in einer langen Reihe vor dem Bus, der am frühen Montagmorgen vor dem Schulgebäude wartete. Koffer wurden gerollt, Rucksäcke geschultert, und das Murmeln von Gesprächen wurde nur vom Zischen der Bustür unterbrochen. Für viele Kinder war es das erste Mal, dass sie ohne Eltern verreisten. Für fast alle war es das erste Mal, dass sie für mehrere Tage mitten in der Natur wohnen würden – im Schullandheim „Waldlicht“, tief im grünen Herzen eines kleinen Mittelgebirges.Als der Bus nach zweieinhalb Stunden Fahrt die gewundene Straße zum Landschulheim hinauffuhr, wurde es im Inneren des Fahrzeugs allmählich stiller. Die Kinder drückten ihre Gesichter an die Fensterscheiben und blickten auf Wälder, Wiesen, Hügel und eine Landschaft, die sie sonst nur aus Büchern oder Filmen kannten. Kein hupendes Auto, kein Straßenlärm, keine Werbetafeln – nur Vogelgezwitscher und das Rauschen der Bäume.
„Willkommen im Schullandheim Waldlicht!“, begrüßte sie Frau Melzer, die Heimleiterin, mit einem Lächeln. „Hier seid ihr mitten in der Natur – und glaubt mir: Sie hat viele Geschichten für euch.“
Die Zimmer waren schlicht, aber gemütlich. Holzbetten, große Fenster, ein Blick auf die Baumwipfel – für viele Kinder war das schon ein kleines Abenteuer. Kaum waren die Koffer verstaut, ging es auf eine erste Entdeckungstour mit Herrn Weber, dem Biologielehrer. Er trug wie immer seine grüne Outdoorjacke, sein Fernglas um den Hals, und hatte einen Ausdruck im Gesicht, als könne er es kaum erwarten, mit den Kindern ins Unterholz zu tauchen.
„Heute geht’s darum, den Wald mit allen Sinnen zu erleben“, erklärte er. „Nicht nur schauen, sondern hören, fühlen, riechen.“Die Klasse marschierte auf einem schmalen Pfad in den Wald hinein. Bald wurde es stiller – ein anderes Stillsein als im Klassenzimmer. Ein achtsames, neugieriges Schweigen. Dann: das Knacken von Zweigen unter den Füßen, das Summen von Insekten, das ferne Trommeln eines Spechts.
In kleinen Gruppen erhielten die Schüler Aufgaben: Welche Bäume stehen hier? Wie riecht feuchtes Moos? Welche Spuren hinterlassen Tiere? Am späten Nachmittag kehrten sie mit schmutzigen Hosen, voller Eindrücke und mit kleinen Schätzen in den Taschen – einer Feder, einer besonderen Eichel, einem Schneckenhaus – ins Heim zurück.
Der zweite Tag stand im Zeichen des Forschens. Mit Lupen, Becherlupen und Bestimmungsbüchern bewaffnet, wurden Käfer beobachtet, Pflanzen untersucht und Bodenproben gesammelt. Im Werkraum des Hauses, der mit Holzregalen, Mikroskopen und bunten Plakaten ausgestattet war, dokumentierten die Kinder ihre Funde. Eine Gruppe bastelte ein kleines Herbarium, eine andere zeichnete Insekten mit erstaunlicher Genauigkeit.Am Abend gab es ein Lagerfeuer. Das Knacken des Holzes, der süße Geruch von Stockbrot und das orange Licht, das über die Gesichter der Kinder tanzte, schufen eine besondere Atmosphäre. Auch die sonst eher stillen Schüler öffneten sich – da war kein Handy, kein WLAN, keine Ablenkung. Nur das Hier und Jetzt. Geschichten wurden erzählt, ein paar mutige Kinder sangen leise ein Lied, das sie aus dem Musikunterricht kannten. Selbst Herr Weber lächelte mehr als sonst.
Am dritten Tag war eine Nachtwanderung geplant. Einige Kinder waren aufgeregt, andere hatten ein bisschen Angst. Doch mit Taschenlampen, klaren Anweisungen und der Gewissheit, dass sie in guter Begleitung waren, ging es los. Als sie mitten im Wald die Lichter ausschalteten und einfach nur horchten, waren alle beeindruckt. Der Wald in der Nacht war lebendig, aber auf seine ganz eigene, geheimnisvolle Weise.„Erlebt ihr das?“, flüsterte Frau Melzer. „Das ist die Sprache der Natur, wenn wir still genug sind, um zuzuhören.“Am letzten Tag packten die Kinder ihre Sachen. Viele wollten gar nicht zurück – in der kurzen Zeit hatte sich etwas verändert. Sie hatten nicht nur etwas über Bäume, Tiere oder Pflanzen gelernt, sondern auch über sich selbst, über das Zusammensein in der Gruppe und darüber, wie es sich anfühlt, Teil einer größeren, lebendigen Welt zu sein.
Im Bus zurück in die Stadt war es ruhiger als auf der Hinfahrt. Einige Kinder dösten, andere schauten noch einmal aus dem Fenster, auf die vorbeiziehenden Bäume, die ihnen nun nicht mehr ganz so fremd vorkamen.
Als sie wieder an der Schule ankamen, sagte Lina, eine der Schülerinnen, leise zu ihrer Freundin:
„Ich dachte immer, Natur wäre langweilig. Aber eigentlich ist sie wie ein riesiges Buch – man muss nur anfangen, darin zu lesen.“